Eingegipst? Stuttgart 21 und die Erdwärme

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Von Steinen bis zu den Sternen
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Wenn man dieser Tage von Stuttgart 21 hört, geht es meist um Bürger und Politiker, um Demonstranten und Polizisten, um den alten Kopfbahnhof und die kopflos geplante Alternative.

Stuttgart Hbf alt (gemeinfrei, Andreas Praefcke)
Stuttgart Hbf alt (gemeinfrei, Andreas Praefcke)

Selten – und wenn dann meist am Rande – kommt mal ein Geologe zu Wort. Was der dann zu sagen hat, ist meist unerfreulich.

Der Tübinger Geologe Jakob Sierich, ein Spezialist für anhydrit- und gipsführende Erdschichten, hat für das Magazin [Stern] das Gutachten analysiert. Sein Befund lautet: “Bei Stuttgart 21 geht es nicht um mögliche Risse in Häusern, es geht um mögliche Krater, in denen Häuser verschwinden können. Es geht um Menschenleben.”

Genau erklärt wird das Problem in den Medien aber kaum. Sie würde wie eine frische Fleischwunde die politischen und wirtschaftlichen Widersprüche offen zur Schau stellen.

Um diese Geschichte von Anfang an zu erzählen, müssen wir eine Weile zurückblicken. Vor rund 200 Millionen Jahren war es in Südwestdeutschland warm und feucht. Die Region lag am Rand eines großen Ozeans, von dem es durch eine Barriere abgetrennt war. Die Sonnenstrahlung dampfte einen großen Teil dieses Beckens ein. Minerale reicherten sich an, ähnlich wie das heute im Toten Meer passiert. Als fast das gesamte Wasser verdampft war, fiel Anhydrit aus. Dieses Mineral – Kalziumsulfat – reagiert wegen seiner Entstehungsgeschichte extrem empfindlich auf Wasser. Wenn er mit Tonsedimenten wasserdicht abgedeckt wird, kann er sich jedoch unbeeindruckt über hunderte Millionen Jahre halten.

In der schwäbischen Hauptstadt liegen diese Anhydritschichten heute wieder an der Oberfläche. Und nicht erst seit Stuttgart-21: Die auch als Gipskeuper bezeichnete Schicht wurde durch Erosion in der jüngeren geologischen Geschichte freigelegt. Das Resultat: Überall, wo Regen- und Grundwasser eindrang, reagierte es mit dem Anhydrit und formte Gips. Dieser Prozess der chemischen Lösung ist das täglich Brot einer ganzen Handwerkerinnung: “Gips” aus dem Baumarkt enthält zum großen Teil Anhydrit, der mit Wasser abbindet. Was den Gipser wenig stört: Das Mineral Anhydrit ist deutlich kompakter als der entstehende Gips. Das Volumen des gehärteten Gips liegt um 60% über dem des eingesetzten Anhydrits. Aus einer Packung Anhydrit entstehen so 1,6 Packungen Gips.

Woher holt der Gips im Untergrund diesen Platz? Er nimmt ihn sich! Wenn aus einer mit Anhydrit geschwängerten wässrigen Lösung Gips entstehen kann, wird er entstehen. Der sogenannte Quelldruck kann schon mal ein paar hundert Meter Erdreich in die Höhe stemmen.

Genau das passierte nach einer Erdwärmebohrung im malerischen Staufen im Breisgau: Die Stadt ist durchzogen von zwei Störungszonen, die sehr viel Wasser führen. Gleichzeitig stehen die geologischen Schichten senkrecht, inklusive des anhydritreichen mittleren Muschelkalks. Die Bohrung verband die wasserführenden Klüfte mit senkrecht stehenden Anhydritschichten. Das Resultat: Der Staufener Untergrund begann sich an manchen Stellen um mehr als 40 Zentimeter zu heben. In den historischen Gebäuden der mittelalterlichen Altstadt entstand erheblicher Sachschaden (Schad & Gehlen, 2008).

In Stuttgart ist die geologische Situation eigentlich überschaubarer: Der anhydritführende Gipskeuper liegt schon seit Jahrtausenden an der Oberfläche und ist ausgelaugt, also in Gips umgewandelt. Wo ist das Problem?

Geologisches Profil Stuttgart (nachgezeichnet nach Ufrecht 2003, Amt für Umweltschutz, Stuttgart)
Geologisches Profil Stuttgart (nachgezeichnet nach Ufrecht 2003, Amt für Umweltschutz, Stuttgart)

Nun: Der Gipskeuper ist nicht komplett ausgelaugt. In der nebenstehenden Abbildung erkennt man eine feine rot gestrichelte Linie, die den Gipskeuper (hellblaue Schicht) durchzieht. Der Gipsauslaugungshorizont. Der Hauptbahnhof liegt im Bereich “Stadtmitte”, der hier den Stuttgarter Talkessel markiert. Gräbt man hier einen unterirdischen Bahnhof und “unterfährt” die Stadt mit weiteren Tunneln, muss man direkt in den Gipskeuper bohren. Solange man dies in der ausgelaugten Zone (über der Strichellinie) macht, besteht kein Risiko. Arbeiten darunter schaffen eine Wegsamkeit für Grund- und Regenwasser zu unausgelaugtem Anhydrit. Und hier beginnt das Problem. Denn wo diese Auslaugungsfront exakt liegt, kann man nicht überall sagen.

Ein weiteres Problem entsteht in Gebieten, die bereits vor langer Zeit ausgelaugt worden sind: Der Gips hat sich hier Wegsamkeiten geschaffen, hat Gestein und Erdreich in seiner Umgebung weggeschoben und dabei oft Hohlräume geschaffen, die später wieder teilweise verschüttet wurden. Beim Bohren von Tunneln können diese Schuttkegel unwissentlich geöffnet werden. Diese führen manchmal bis an die Oberfläche, so dass nachstürzendes Geröll ganze Gebäude gefährden kann.

Natürlich ist den Genehmigungsbehörden am Umweltamt genau das klar. Daher wurde der Stuttgarter Untergrund ausgiebig erkundet. Hunderte Bohrungen wurden niedergebracht. Während des Baus senken etliche Brunnen im Stadtbereich den Grundwasserpegel ab, um zutretendes Wasser zu reduzieren. Doch der alte Bergmannsspruch vor der Schippe ist es dunkel gilt auch für Stuttgart 21: Wie es unter der Erde wirklich aussieht, wird man erst beim Graben erfahren, egal wie gut vorher erkundet wurde.

Die dargestellte Profilzeichnung stammt übrigens aus einer Broschüre des Amtes für Umweltschutz zur Nutzung der Geothermie in Stuttgart. Die Behörden im Ländle sind besonders besorgt, dass ausufernde geothermische Bohrungen zur Energieversorgung von Gebäuden bald auch Anhydritschichten durchstoßen. Die schlechten Erfahrungen aus Staufen im Breisgau sollen sich in der Landeshauptstadt nach Möglichkeit nicht wiederholen. Daher wird seit rund zwei Jahren verlangt, dass jede Erdwärmebohrung beim ersten Anzeichen von Sulfatgestein (Anhydrit oder Gips) zu stoppen und sofort zu verfüllen ist.

So eine Güterabwägung gehört klar zu den Aufgaben eines Amtes: Die Versorgung mit sauberen erneuerbaren Energien steht hier der Sicherheit der Gesellschaft gegenüber. Das lässt sich aber offenbar nur gegenüber kleineren Akteuren durchsetzen.

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Karl Urban wäre gern zu den Sternen geflogen. Stattdessen gründete er 2001 das Weltraumportal Raumfahrer.net und fühlt sich im Netz seitdem sehr wohl. Er studierte Geowissenschaften und schreibt für Online-, Hörfunk- und Print-Publikationen. Nebenbei podcastet und bloggt er.

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