Kick it like Einstein: Malbec, Maradona und Mar Chiquita

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Meine Kollegin Suzana stammt aus Kolumbien. Hin und wieder reden wir über ihr Land im Speziellen und über Südamerika im Allgemeinen. Kommt dann die Sprache auf Argentinien, verzieht sie das Gesicht. Sie hält es mit Friedrich Holländers berühmter Verszeile "Guck doch nicht immer nach dem Tangogeiger hin, was ist schon dran an Argentinien?" Besonders der zweiten Halbsatz bestätigt ihr Weltbild. "Die Argentinier sind furchtbar arrogant", meint Suzana. Ich versuche zu beschwichtigen: "Das kann man doch wohl nicht verallgemeinern". "Bueno", lenkt sie ein, nicht sonderlich überzeugt, "wenn Du meinst". Danach versinkt sie für einige Sekunden in Stille, den Blick nach innen gerichtet, und kramt nach etwas längst Vergessenem in ihrem neuronalen Datenspeicher. Dann hat sie es entdeckt, und ihre Ressentiments brechen erneut auf "… und den Tango haben sie auch nicht erfunden. Der stammt aus Uruguay".

Suzana weiß Bescheid über Argentinien. Aber auch ich habe fundierte, nahezu vorurteilsfreie Kenntnisse. Passen Sie mal auf:

In Argentinien gibt es riesige zarte Steaks von wild herumstreunenden Rindern, die auf einer ungeheuren Wiese namens "Pampa" grasen. Deren Zuführung zu den Schlachthöfen besorgen berittene Kuhhirten, die als Gauchos bezeichnet werden und deren Umgang mit ihren Reittieren in Mitteleuropa den Tierschutzverein auf den Plan rufen würde. Vor vielen Jahren gab es in Argentinien einen Mann namens Peron, der mit drei Frauen verheiratet war. Dieses Quartett komponierte ein Musical mit dem Titel "Evita". Argentinien nimmt  eine Vorbildfunktion für viele afrikanische Staaten ein, denn hier wurden Durchführung und Ablauf von Militärputsches (wie autet eigentlich die korrekte Mehrzahlform?) durch häufiges und intensives Üben perfektioniert. Einschließlich der dazugehörigen Ausschaltung missliebiger Oppositioneller. Und Argentinien ist bekannt für den eindrucksvoll gelungenen Versuch innerhalb nur weniger Jahrzehnte alle volkswirtschaftlichen Katastrophenzustände von der Kriegswirtschaft über die Hyperinflation bis zur Deflation selbst auszuprobieren.

So ist das mit Argentinien. Oder zumindest so ähnlich. Mag sein, dass ich nicht gerade DER weltbeste Argentinien-Kenner bin. Wirklich ausgiebig beschäftigt habe ich nämlich nur mit drei argentinischen Spezialitäten: Malbec, Maradona und Mar Chiquita.

Spezialität Malbec. Hier "Don Baltazar" aus San Juan und "Beatum", ein Rosé de Malbec aus Mendoza

Fangen wir mit letzterem an, denn das fällt am ehesten in mein Fach. Mar Chiquita ist nicht, wie man vielleicht vermuten könnte, eine Bananensorte die besonders küstennah angebaut wird, sondern ein Steppensee von beachtlichen Ausmaßen in dessen Nähe sich einst das argentinische Cap Canaveral befand.

Das Raumfahrtzeitalter begann für Argentinien schon überraschend früh: 1949. In diesem Jahr gründete Teofilo Tabanera, der "Vater der argentinischen Raumfahrt" eine Organisation mit der Bezeichnung "Sociedad Argentina Interplanetaria", was soviel heißt wie "Argentinische Interplanetare Gesellschaft" oder kurz: SAI. Vereinigungen dieser Art gab es in Europa und den USA schon länger. Ihr Ursprung ging meist auf das Vorbild oder sogar auf direkte Beziehungen zum deutschen "Verein für Raumschiffahrt" (damals tatsächlich mit nur zwei "f") zurück, der im Jahre 1927 gegründet worden war. Und tatsächlich hatte der VfR schon vor Tabaneras Zeit Kontakte mit argentinischen Raumfahrtenthusiasten gepflegt. Immerhin war die SAI der erste Zusammenschluss dieser Art in Südamerika.

1952 war das Land eines der Gründungsmitglieder der Internationalen Astronautischen Föderation, und auf theoretischem Gebiet war Argentinien bald unter den führenden Nationen. Mit den ersten Ideen des Weltraumrechts wird heute beispielsweise der Name Aldo Cocca in Verbindung gebracht (auf dessen Initiative auch die Errichtung des Planetariums von Buenos Aires zurückgeht).

In den frühen sechziger Jahren machte sich Argentinien mit Feuereifer daran, auch die praktischen Grundlagen der Raumfahrttechnik anzueignen. Wer weiß, was daraus unter einer durchgängig stabilen demokratischen Regierung im Laufe der Zeit hätte werden können. So aber war diese erste Raumfahrtepoche durch eine ständige Abfolge von Staatsstreichen gekennzeichnet. Immerhin wurden trotz der ständigen Tumulte zwei permanente Startplätze für Höhenforschungsraketen eröffnet: CELPA (Centro de Experimentación y Lanzamiento de Proyectiles Autopropulsados) nahe der peruanischen Grenze am 15. November 1962 (das Jahr, in dem General Raúl Poggi putschte) und eben Mar Chiquita, am 24. Januar 1968 (in diesem Jahr putschte General Juan Carlos Ongania).

Startvorbereitung für den Start einer kleinen "Arcas"-Höhenforschungsrakte in den sechziger Jahren in Mar Chiquita

Das Jahr 1976 (Putsch durch General Jorge Rafael Videla) sah auch schon wieder das Ende der argentinischen Raumfahrtbemühungen. Am 9. Dezember 1976 wurde der Betrieb am Startgelände Mar Chiquita eingestellt. An diesem Tag erreicht eine kleine Höhenforschungsrakete mit der Bezeichnung "Rocketsonde" grade mal 58 Kilometer Höhe. In den besseren Zeiten waren von Mar Chiquita Höhenforschungsraketen des französischen Typs "Belier" und der argentinischen Eigenentwicklung "Canopus"  in Höhen bis über 400 Kilometer geflogen. Eine der Canopus-Raketen wurde sogar von der argentinischen Antarktis-Station Marambio aus gestartet. Der Abschussgelände von CELPA hatte schon am 20. März 1974 dicht gemacht.

Wirklich geflogen sind nur die beiden Typen, denen der Techniker hier den Rücken zuwendet

Der Niedergang der ersten argentinischen Raumfahrtphase fiel ziemlich genau mit dem Aufstieg des argentinischen Fußballs zusammen. Kurz nachdem die Junta um General Videla die rechtmäßig gewählte Staatspräsidentin Isabel Peron aus dem Amt gejagt und mit ihren politischen "Säuberungen" begonnen hatte (die am Ende 30.000 Oppositionellen das Leben kosten sollten) trug Argentinien im Juni 1978 die WM im eigenen Land aus und wurde prompt Weltmeister.

Wenn man heute in Deutschland jemandem das Stichwort "Fußballweltmeisterschaft in Argentinien" nennt, dann erinnert sich fast niemand mehr an Videlas Terror-Regime. Dagegen ist jedem die so genannte "Schande von Cordoba" geläufig. Deutschland schied damals in der zweiten Runde der Gruppe A aus. Beim legendären Spiel in gegen Österreich, bei dem Hans Krankl zum Nationalhelden wurde. Und zwar zum österreichischen Nationalhelden.

Immerhin brauchte Argentinien nicht unbedingt eine Diktatur, um Fußballweltmeister werden zu können. 1986 gelang das auch in der damals allerdings noch äußerst unruhigen Demokratie. Auch an dieses Jahr – die WM fand in Mexiko statt – haben die Deutschen keine gute Erinnerung. Der legendäre Bomber der Nation war nämlich wieder dabei. Der hieß allerdings nicht Gerd Müller sondern Diego Maradona und stand auf Seiten Argentiniens. Die Argentinier versägten im Endspiel in Mexico City die Deutsche Mannschaft mit 3:2.  Maradona schoss selbst zwar keine Tor, lieferte aber die Vorlage zum Siegtreffer. Die Revanche erfolgte vier Jahre später in Rom. Deutschland wurde Weltmeister und schlug im Endspiel Argentinien mit 1:0.

Etwa ab dieser Zeit begann sich die Lage im Lande langsam zu stabilisieren. Gleichzeitig ging es mit dem Fußball abwärts:
Immerhin reichte es noch zweimal zum Viertelfinale, 1998 und 2006.  Letzteres Datum ist dem hiesigen Fußballfan noch lebhaft im Gedächtnis, denn die WM war im eigenen Land und dann kam es beim Spiel um den Einzug ins Halbfinale zu einem dramatischen Elfmeterschießen, das die deutsche Mannschaft vor allem durch die Leistung ihres Torhüters Jens Lehmann für sich entscheiden konnte.

1991 wurde die argentinische Raumfahrtagentur ins Leben gerufen, die CONAE (Comisión Nacional de Actividades Espaciales).  Argentinien konzentrierte sich zunächst auf den Bau wissenschaftlicher Satelliten der SAC-Serie (Satélite de Aplicaciones Científicas) und gründete 1993 eine kommerzielle Satellitenbetreibergesellschaft mit der Bezeichnung Nahuelsat. Letztere war nichts anderes als eine Lizenz der argentinischen Regierung an die Unternehmen Aerospatiale, Alenia (beide haben vor einiger Zeit fusioniert und bilden heute die „Thales Alenia Space“) und die DASA (heute Bestandteil von EADS Astrium) Telekommunikationssatelliten auf den argentinischen Slots für geostationäre Satelliten zu betreiben. Das Abkommen hielt nur ein paar Jahre, und es gab nur einen Satelliten, Nahuelsat 1.

Argentiniens erster selbst gebauter Satellit (SAC-B) ging im November 1966 beim Fehlstart seiner amerikanischen Pegasus-Trägerrakete verloren. Mit SAC-A klappte es besser. Er wurde während der Shuttle-Mission STS 88 von der Crew der Endeavour im Orbit ausgesetzt.

Im April 2006 wurde die Empresa Argentina de Soluciones Satelitales S.A.  gegründet, kurz ARSAT. Anders als die Vorgängerorganisation Nahuelsat baut ARSAT seine Kommunikationssatelliten nun selbst. Um genau zu sein: ARSAT führt die Endmontage von Subsystemen und Komponenten durch, die allesamt von außerhalb Argentiniens eingekauft werden. Bevorzugt in Europa. Die deutsche Astrium beispielsweise liefert für ARSAT Antriebssysteme und Solargeneratoren.

Arsat 1 ist bereits in einem fortgeschrittenen Montage-Zustand und soll im übernächsten Jahr gestartet werden. Für Arsat 2 begann die Komponenten-Auschreibung in diesen Tagen, Arsat 3 ist in Planung. Auch ein kleines System von zwei Erdbeobachtungssatelliten mit der Bezeichnung SAOCOM wird vorbereitet. Es wird zusammen mit Italiens COSMO-Skymed Erdbeobachtungssatelliten die argentinisch-italienische Konstellation SIASGE bilden.

Wir sehen: Argentinien ist in der Gemeinschaft der Raumfahrtnationen angekommen. Das Land gilt heute als zuverlässiger Industriepartner, eingebunden in die weltweiten Netzwerke. Diese Kontakte und Verpflichtungen machen es für Investoren berechenbar und lukrativ zugleich und tragen zur weiteren politischen Stabilisierung bei. Für die argentinische Bevölkerung ist sicher von Vorteil.

Allerdings verschwindet damit auch immer mehr die impulsive, unberechenbare, manchmal fanatische, manchmal sogar geniale Note, die dieses südamerikanische Land früher ausgezeichnet hat. Wesensmerkmale, die auch den argentinischen Fußball in der Vergangenheit geprägt haben. Argentinien feierte seine Fußballtriumphe in den Phasen seiner größten Instabilität. Maradona war auf dem Gipfel seiner Kunst als im Lande Chaos und Terror herrschten.

Und irgendwie ahnen die argentinischen Verbandsfunktionäre, dass ihre  Mannschaft die Dauerrevolution, den permanenten Putsch und ein gehöriges Maß an Fanatismus benötigt, um ganz vorne mitspielen zu können. Wie sonst käme man auf die verwegene Idee, einen Zombie wie Diego Maradona aus der Gruft zu holen und an die Spitze der Mannschaft zu stellen.

Der Malbec-Rosé schmeckt kräftig, erdig und würzig. Am Besten isst man Bitter-Schokolade dazu. Im Notfall dürfen es aber auch mal Mini-Mohrenköpfe sein.

Und jetzt noch kurz zum Malbec, der mich bei der unterhaltsamen Arbeit an diesem Beitrag vorzüglich unterstützt hat. Der Malbec ist eine alte, klassische französische Rotwein-Rebsorte, die früher vor allem in den Bordeaux-Cuvees zu finden war. In Frankreich wird sie heute kaum noch angebaut. Sie ist den Franzosen zu empfindlich und zu unberechenbar. Damit entspricht er aber gut dem argentinischen Nationalcharakter und tatsächlich hat der Malbec hier zu seiner wahren Bestimmung gefunden. Wenn je ein Wein zu einem Land passt hat, dann dieser. Der Wein aus der Malbec-Traube ist ein tiefdunkel, fast schwarz. Wenn man einen Rosè daraus keltern will, muss ihn schnell von der Schale trennen. Aber selbst dann schmeckt er für einen Rosè untypisch: Schwer, erdig und würzig. Man bekommt ihn – in rot oder rosé – kaum mit weniger als 14 % Alkohol.

Und ich frage mich wirklich, weshalb Maradona kokst, wenn es in seinem Land so einen Wein gibt.

Beitrag fertig…!

Internet-Adressen:

Argentinische Raumfahrtagentur
Arsat
Argentinischer Wein

Noch einmal argentinischer Wein

Die Kirche Maradonas

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Ich bin Raumfahrt-Fan seit frühester Kindheit. Mein Schlüsselerlebnis ereignete sich 1963. Ich lag mit Masern im Bett. Und im Fernsehen kam eine Sendung über Scott Carpenters Mercury-Raumflug. Dazu der Kommentar von Wolf Mittler, dem Stammvater der TV-Raumfahrt-Berichterstattung. Heute bin ich im "Brotberuf" bei Airbus Safran Launchers in München im Bereich Träger- und Satellitenantriebe an einer Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Technik tätig. Daneben schreibe ich für Print- und Onlinemedien und vor allem für mein eigenes Portal, "Der Orion", das ich zusammen mit meinen Freundinnen Maria Pflug-Hofmayr und Monika Fischer betreibe. Ich trete in Rundfunk und Fernsehen auf, bin Verfasser und Mitherausgeber des seit 2003 erscheinenden Raumfahrt-Jahrbuches des Vereins zur Förderung der Raumfahrt (VFR). Aktuell erschien in diesen Tagen beim Motorbuch-Verlag "Interkontinentalraketen". Bei diesem Verlag sind in der Zwischenzeit insgesamt 16 Bücher von mir erschienen, drei davon werden inzwischen auch in den USA verlegt. Daneben halte ich etwa 15-20 mal im Jahr Vorträge bei den verschiedensten Institutionen im In- und Ausland. Mein Leitmotiv stammt von Antoine de Saint Exupery: Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Menschen zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge zu verteilen und Arbeit zu vergeben, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten unendlichen Meer. In diesem Sinne: Ad Astra

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