Blauer Ursprung

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Raumfahrt: Informationen – Meinungen – Hintergründe
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Wahrscheinlich sechs Unternehmen werden sich an der Ausschreibung des Commercial Crew Programms der NASA beteiligen, aus der irgendwann nach 2014 voraussichtlich zwei bemannte Transportsysteme für den niedrigen Erdorbit hervorgehen werden. Bei fünf dieser Unternehmen – Boeing/Bigelow, Sierra Nevada, SpaceX, Orbital Sciences und Lockheed Martin – weiß man recht genau was sie machen, wie ihre projektierten Vehikel aussehen und was sie leisten können. Doch einer der zukünftigen Konkurrenten tanzt aus der Reihe. Gegen dieses Unternehmen ist ein Schweige-Konvent eine Plauderbude. Sein Name: Blue Origin.

New Shepard Prototyp

Blue Origins "New Shepard" im November 2006

Blue Origin befindet sich im Besitz von Jeff Bezos. Dem gehören auch der Online-Versand Amazon und derzeit, laut Forbes-Liste, 8,8 Milliarden Dollar. Damit finanziert er seine Raumfahrt-Ambitionen entweder komplett alleine oder aber mit sehr verschwiegenen stillen Gesellschaftern. Die anderen beiden milliardenschweren Einzelunternehmer in der exklusiven Gemeinde der privaten Raumfahrt Startups – Elon Musk und Robert Bigelow – führen ihre Arbeiten vor den Augen der Welt durch. Das hat Vorteile: Elon Musk muss beispielsweise schon seit Jahren kein eigenes Geld mehr einsetzen, denn durch Offenlegung seiner Aktivitäten und der Beteiligung an den Ausschreibungen der Weltraumbehörde kommt er auch an öffentliche Mittel heran. Bis heute hat die NASA schon etwa 300 Millionen Dollar an SpaceX überwiesen und Aufträge im Wert von fast zwei Milliarden Dollar in Aussicht gestellt. Und auch Privatinvestoren legen bei ihm Geld an.

Doch das ficht Jeff Bezos nicht an. Er hat beschlossen, die Raumfahrt unter komplettem Ausschluss der Öffentlichkeit neu zu erfinden. Er hat drei Hektar Büros und Fertigungsstätten im Bundesstaat Washington errichten lassen, in Kent, einer 90.000-Einwohner Gemeinde vor den Toren Seattles. Über die Einrichtungen dort meinte Dan Rasky von den NASA Ames Laboratories, der dort kürzlich einen Besuch abstattete: “Wenn Sie wissen wollen wie das Clubhaus eines Milliardärs aussieht: besuchen Sie einfach Blue Origin in Kent”.

Verwaltungs- und Fertigungskomplex von Blue Origin in Kent bei Seattle

Die Testanlagen und das Fluggelände befinden sich 3.000 Kilometer weiter südöstlich, in Texas. Dort hat Bezos im dünn besiedelten Culbertson County ein Gelände gekauft, um dessen Größe ihn mancher Nationalstaat auf diesem Planeten beneiden würde. Er fing mit bescheidenen 670 Quadratkilometern an, hat aber in den letzten Jahren große Areale dazu gekauft. Das Gelände heißt ironischerweise "Corn Ranch" obwohl dort kaum ein Grashalm wächst. Aber vielleicht sind mit „Corn“ auch die Sandkörner gemeint. Ob Kent oder die Corn Ranch: Alles ist Sperrgebiet, und seit Jahren fragt sich jeder: Was um alles in der Welt treibt Jeff Bezos mit diesen immensen Immobilien?

2006 war in der Fertigungshalle in Kent noch nicht viel los…

Tatsächlich scheint der Aufwand grotesk übertrieben. Der Öffentlichkeit ist offiziell nur ein Flugereignis bei Blue Origin bekannt, und das war der Erstflug des suborbitalen "New Shepard" Prototypen im November 2006. Damals stieg die knuffige Weltraumkugel, deren Form an ein überdimensioniertes Himbeerdrops erinnert (für die Älteren unter uns, die noch Commander Cliff Allistair McLeans Orion 7 in "Raumpatrouille" kennen: Es sieht auch einer "Lancet" verblüffend ähnlich) fauchend 90 Meter in die Höhe und setzte sich dann wieder zurück auf seine vier Beine. Danach flog dieses Vehikel wahrscheinlich nur noch zwei weitere Male im Frühjahr 2007. So ganz genau weiß man das nicht, denn diese Flüge fanden schon unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

Gradatim ferociter – Losung und Logo von Blue Origin 

Doch jetzt, just zur Einstellung des NASA-Constellation Programms und der Ankündigung großer Initiativen zur privaten Raumfahrt taucht Blue Origin wieder aus der Versenkung auf. Ein bisschen wenigstens. Vor einigen Wochen fand in Boulder, Colorado die "Next-Generation Suborbital Researchers Conference" statt. Bei der sprach ein Vertreter von Blue Origin namens Gary Lai der sich zur Firmenphilosophie wie folgt äußerte: “Wir sprechen grundsätzlich nur über Resultate und nicht über Pläne. Resultate, das sind für uns erreichte Meilensteine. Haben wir einen erreicht, der es notwendig macht an die Öffentlichkeit zu gehen, dann tun wir das. Vorher nicht".

Man scheint also just im richtigen Moment einen Meilenstein der beschriebenen Art erreicht zu haben, denn in letzter Zeit lichtete sich der Vorhang ab und zu ein kleines Stück. Tragen wir die spärlichen Informationen des letzten Jahres zusammen und ordnen wir sie chronologisch, dann ergibt sich folgendes Bild:

1. Vor gut einem Jahr heuerte Jeff Bezos Dr. Alan Stern an, den ehemaligen NASA-Administrator für Wissenschaftsmissionen. Der begann sofort aktiv zu werden und rief im Laufe des Jahres 2009 Forschungsinstitute und Industrie auf, Nutzlasten für die Phase 1 des New Shepard – Testflugprogramm anzubieten.

2. Seiner eigenen Aussage nach ging eine stattliche Anzahl an Vorschlägen ein, und im November 2009 wählte er drei davon aus. Die sollen etwa 2011 fliegen. Die Experimentatoren sind verpflichtet, ihre Experimente bis November 2010 zur Integration in das Raumfahrzeug zur Verfügung bereit zu stellen.

3. Ab 2012, so Alan Stern kürzlich, werden diese und andere Nutzlasten auch "begleitet" fliegen können. Und zwar von "drei oder mehr Personen" in Höhen von "über 100 Kilometern".

4. Das New Shepard-System, so hörte man in den letzten Wochen, ist modular ausgelegt und besteht in seiner Basisversion aus einer Mannschaftskabine und einem Antriebsmodul. Nach Brennschluss, zweieinhalb Minuten nach dem Beginn der Zündung, trennen sich die beiden Systeme und landen nach Absolvierung ihrer suborbitalen Parabel getrennt am Fallschirm. Im Notfall, beispielsweise einem Fehler im Antriebssystem, wird ein Pusher-Startabbruchsystem aktiviert, das die Kabine vom Antriebsmodul trennt.

5. Am 2. Februar fand in Washington eine NASA-Pressekonferenz statt, bei der die Gewinner der Entwicklungsaufträge im "Commercial Crew Development Program" der NASA bekanntgegeben wurden. Große Überraschung: Blue Origin hatte sich auch beteiligt und prompt einen der begehrten Aufträge gewonnen. Den nahm Robert Millman in Empfang, der in seiner kurzen Ansprache vor allem kryptische Bemerkungen in der Art machte, wie man sie seinerzeit vom sowjetischen Politbüros zum Status der Raumfahrt der UdSSR gehört hatte. Von ihm erfuhr man so gehaltvolle Dinge wie: “The (Blue Origin) Team is dedicated to creating technologies for an enduring human presence in space”  Immerhin: Die Teilnahme an der NASA-Ausschreibung und den Gewinn eines Auftrags bestätigt: Blue Origin entwickelt nicht nur ein suborbitales Fahrzeug sondern will auch in der orbitalen Raumfahrt mitspielen.

6. Und schließlich trug Alan Lindenmeyer, bei der NASA für das Commercial Crew und Cargo Programm zuständig, erst vor wenigen Tagen bei der Commercial Space Transportation Conference eine Präsentation vor, bei der die Entwicklungsinhalte aller fünf Gewinner der oben erwähnten NASA-Ausschreibung beschrieben wurden. Das Blue Origin-Slide zeigt die sehr grobe Skizze eines bikonischen Raumfahrzeugs mit deutlichem Anklang zu den frühen Entwürfen des russischen Kliper-Systems. Weitere Aussage: Gestartet werden soll das Raumfahrzeug auf einer Atlas 5 402, demselben Typ, auf der übrigens auch Bigelow/Boeing starten will. Blue Origins Orbitalentwurf hat dabei offensichtlich das "Pusher-Startabbruchsystem" des suborbitalen "New Shepard" übernommen.

Das war’s dann auch schon wieder. So richtig viel wissen wir also immer noch nichts über die Projekte und Ziele der geheimnisvollen Blue Origin. Sicher ist nur: In den nächsten Monaten muss Blue Origin mit weiteren Informationen herausrücken, schließlich werden sie ihr Produkt ja auch vermarkten wollen. Einer wie Jeff Bezos will sein eingesetztes Kapital eines Tages wieder zurück. Mit Zinsen.

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Ich bin Raumfahrt-Fan seit frühester Kindheit. Mein Schlüsselerlebnis ereignete sich 1963. Ich lag mit Masern im Bett. Und im Fernsehen kam eine Sendung über Scott Carpenters Mercury-Raumflug. Dazu der Kommentar von Wolf Mittler, dem Stammvater der TV-Raumfahrt-Berichterstattung. Heute bin ich im "Brotberuf" bei Airbus Safran Launchers in München im Bereich Träger- und Satellitenantriebe an einer Schnittstelle zwischen Wirtschaft und Technik tätig. Daneben schreibe ich für Print- und Onlinemedien und vor allem für mein eigenes Portal, "Der Orion", das ich zusammen mit meinen Freundinnen Maria Pflug-Hofmayr und Monika Fischer betreibe. Ich trete in Rundfunk und Fernsehen auf, bin Verfasser und Mitherausgeber des seit 2003 erscheinenden Raumfahrt-Jahrbuches des Vereins zur Förderung der Raumfahrt (VFR). Aktuell erschien in diesen Tagen beim Motorbuch-Verlag "Interkontinentalraketen". Bei diesem Verlag sind in der Zwischenzeit insgesamt 16 Bücher von mir erschienen, drei davon werden inzwischen auch in den USA verlegt. Daneben halte ich etwa 15-20 mal im Jahr Vorträge bei den verschiedensten Institutionen im In- und Ausland. Mein Leitmotiv stammt von Antoine de Saint Exupery: Wenn du ein Schiff bauen willst, dann trommle nicht Menschen zusammen, um Holz zu beschaffen, Werkzeuge zu verteilen und Arbeit zu vergeben, sondern lehre sie die Sehnsucht nach dem weiten unendlichen Meer. In diesem Sinne: Ad Astra

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