Kleine Sünden (Pornographia cerebralis)

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Denken Sie, was ich auch denke?
Würde mich wundern, wenn nicht…

Die Geschichte dazu geht so (ich muss ein klein wenig ausholen, in die aktuellen Gender-Debatten hinein):

“Kleine Sünden”, sagt man, “straft der HErr sofort.”

“Ein Maskulinismus!”, rufen die Feministinnen. Und wiewohl die – wie ich vermute – in der Mehrzahl an keinen HErrn und keine HErrin glauben, insistieren sie – süsse Umkehrung der Sprachmachtverhältnisse – auf “Kleine Sünden straft die GÖttin sofort.”

Tut sie. Und zwar da, dann, und so:

Dr. Senckenbergische Anatomie an der Uni Frankfurt. Kurs Anatomie III, in dem es um Kopf, Hirn und Nervensystem geht, vor zwei Wochen. Ich bin da Kursleiter. In einer ruhigeren Minute setze ich mich auf einen Stuhl an einen Tisch und zwei Studentinnen gegenüber, die sich gerade diesen

Frontalschnitt durch ein Gehirn angucken. Sie besprechen die Dinge, die da zu sehen sind, zeigen mit Sonden darauf, und nennen sie beim Namen. Ich stütz’ den Kopf in die Hände, schweige, und höre einfach zu. Das sind die Studenten gewohnt, ja, sie sind, denk’ ich, mitunter ganz froh drüber, wenn ich sie mal nicht zutexte. Die beiden Damen sind fit, sie können fast alles in diesem Schnitt mit den korrekten Nomina anatomica benennen.

Dann packt mich natürlich doch der Rappel. Ich rutsche auf meinen Stuhl ein wenig nach vorne, ergreife meinerseits eine Sonde und das Wort, umfahre die im ersten Bild gezeigte Region und sage:

“…und das hier nennt man im übrigen nicht umsonst auch die Vulva cerebri.”

In dem Moment, der durch den Punkt im obigen Satz repräsentiert wird – das “i” war noch nicht verklungen – bricht plötzlich der Stuhl unter mir zusammen. Und ich sitze, hochgradig verdutzt, doch unverletzt, eine Etage tiefer. Zwar noch auf dem Stuhl. Nur streckt der alle Viere von sich.

Besorgte Blicke der beiden Damen. “Ham’ Sie sich weh getan?” Hab’ ich nicht. Derweil ich ächzend aufstehe, sag’ ich leise: “Ok. Kapiert. Kleine Sünden straft die GÖttin sofort.” Die Studentinnen grinsen. Die Inspektion des Stuhles ergibt, dass sie ihn keineswegs angesägt haben, sondern dass das altersschwache Sitzmöbel (so ein Stapelstuhl mit Plastiksitzschale und Stahlrohrunterbau) schlicht entlang zweier Schweissnähte zerbrochen war.

All das ist ganz wahr und ungelogen. Ich habe Zeuginnen.

Eigentlich hätt’ ich aber schon viel früher vom Stuhl fallen sollen, aber – so will mir scheinen – die GÖttin kann meine Gedanken nicht lesen. Wenn man nämlich die Sache so zu sehen bekommen will, wie man sie oben sieht, dann muss man das Grosshirn in einem ganz bestimmten Winkel und an einer ganz bestimmten Stelle schneiden. (Für die Cracks: Streng parallel zur Meynertschen Achse und dabei den Schnitt basal zwischen Chiasma opticum und Corpora mammillaria ansetzen.) Und natürlich hatte ich schon etliche Tage vorher, als ich auf dem nämlichen Stuhl sass, und die Schnitte machte, genau das im Sinn: So zu schneiden, dass die Vulva zum Vorschein käme. Aber – ich schwieg damals. Noch.

Und schliesslich – war’s denn eine Sünde? Ich hab’ das einfach so gesagt, ohne die Absicht, den Damen sexuell näher zu treten. Ich hab’s auch nicht in anzüglichem Ton gesagt. Den Penis cerebri (den gibt’s auch!) hatte ich natürlich schon lang vorher vorgeführt, und kein HErr sägte damals an meinem Stuhl. Und versündigt sich nicht der an der Anatomie und an seiner Phantasie, der das, was man halt denkt, wenn man das sieht, nicht denkt? Und wieso sollt’ man es dann nicht so nennen? Ab einem gewissen Punkt wird Keuschheit albern und zeugt mehr von Verklemmung als von der Wertschätzung des Leiblichen. Ich persönlich finde es sehr reizvoll, wenn sich – sozusagen – ein Teil des Körpers durch den anderen in Begriffen begreift. Es muss ja nicht notwendig genitalisch sein. Im Hirn hat der Hippocampus “Füsse” und “Zehen”, alle möglichen Hirnteile haben “Schenkel” und “Arme” – es ist ein Spiel über Mikro- und Makrokosmen, das eine milde analogische Magie verbreitet, und das gefällt mir.

Wer sich für die Historie der Namensgebung der “Vulva” interessiert, der wird in der Publikation, die ich in der Fussnote (1) verlinkt habe, fündig. Es ist eine keusche Publikation über ein unkeusches Thema – zwar breiten die Autoren die Begriffsgeschichte en detail aus – aber ein Bild zu liefern, das haben sie sich nicht getraut (2), ja, das ganze Internet gibt keine gescheite “Vulva cerebri” her. So there you have it.

Soll ich jetzt noch en detail und in in den schamhaften Begriffen der aktuellen “Nomina anatomica” erklären, was man da eigentlich sieht? Keine rechte Lust … das ist im Zwischenhirn, unten an dessen Basis, man schaut von hinten in den optischen Rezess, der die “Vagina” abgibt, die “Schamlippen” sind die Schenkel des Fornix und die “Clitoris” wird durch die Commissura anterior imitiert. Alles weitere in jedem Atlas der Neuroanatomie.


Fussnoten

(1) Régis Olry and Duane E. Haines. The Brain in its Birthday Suit: No More Reason to be Ashamed. Journal of the History of the Neurosciences, 17:461–464, 2008

(2) Eine weitere Anmerkung kann ich mir nicht verkneifen. Die Autoren des zitierten, bilderlosen Papers behaupten, dass nur ein Teil der im ersten Bild gezeigten Region, nämlich die Gegend oberhalb der “Clitoris” (Commissura anterior) und zwischen den “Labiae” (Pars libera columnae fornicis) als “Vulva” bezeichnet wurde/werde. Das kann ich mir aber gar nicht vorstellen, denn diese Gegend entspricht optisch nicht der Vulva insgesamt, sondern nur dem Praeputium clitoridis. Um ehrlich zu sein: Fast denke ich, die Autoren haben die Vulva cerebri nie selbst gesehen.

Avatar-Foto

Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

10 Kommentare

  1. Hirnteile und Körperteile

    Ich wundere mich nur: die alte Vorliebe, Hirnteile nach ähnlichen Körperteile zu benennen, erleichtert die auch die praktische Arbeit des Anatoms?

    Ich meine, nicht nur dass es Spass macht. Es könnte ja auch eine Hilfe für das Gedächtnis sein?

  2. @ Raab

    Hie und da (die “Arme” des Cerebellums) sind die Vergleiche auch visuell weit hergeholt, anderswo (die “Brüste” des Hypothalamus) einfach nur so schlagend, dass es in der Tat ein Merkhilfe ist.

    Die “Vulva”, so finde ich, ist ebenso schlagend. Allerdings könnte man noch hinzusetzen, dass der Begriff nicht nur aus Prüderie in Misskredit gekommen sein mag, sondern auch deshalb, weil er eine Reihe von Strukturen, die eigentlich funktionell und mikroanatomisch wenig miteinander zu tun haben, bündelt. Die Brustkörper sind im Gegensatz dazu tatsächlich eine morphologische und funktionelle “Baueinheit” des Gehirns.

  3. Tseh, Internet…

    ja, das ganze Internet gibt keine gescheite “Vulva cerebri” her. So there you have it.

    …was man vom Original ja so nun nicht sagen kann. Kurios!

  4. Es gibt noch ein weiteres – will mal sag

    Ich erwarte der Leserschaft Kenntnis des Englischen so sie denn dem schlüpfrigen Thema folgen wollen:
    These “historians of neuroanatomy” (yes, there is such a profession, and we should be grateful for it) reviewed a very old, circuitous medical literature and found that the human brain was once described as comprising its very own vulva, penis, testicles, buttocks, and even an anus. In fact, part of the cerebrum is still named in honor of long-forgotten whores.

    Auszug aus http://www.slate.com/articles/health_and_science/science/2011/05/how_the_brain_got_its_buttocks.html

  5. Die “Vulva cerebri” kannte ich schon. Und das sicher aus dem Netz. Weshalb sie dazu nichts finden, ist mir deswegen unklar.

    Das männliche Pendant aber kannte ich nicht. Wie wärs mit einem Bild davon (im nächsten Beitrag)?

  6. Mythos?

    Also doch kein Mythos: Der beste Sex findet im Kopf statt!?

    “Vulva cerebri” und “Penis cerebri”, wie die beiden nun genau zueinander finden, ist mir allerdings auch nach eingehendem Studium Ihrer beiden Artikel nicht ganz klar geworden. Auch bei meiner eigenständigen Suche nach entsprechendem Bildmaterial bin ich im Internet nicht recht fündig geworden (was nur Ihrer Erfahrung entspricht). Immerhin stieß ich auf einen Artikel [1], dem folgendes Zitat entnommen ist.

    “These “historians of neuroanatomy” (yes, there is such a profession, and we should be grateful for it) reviewed a very old, circuitous medical literature and found that the human brain was once described as comprising its very own vulva, penis, testicles, buttocks, and even an anus. In fact, part of the cerebrum is still named in honor of long-forgotten whores.”

    Vielleicht entdecken Sie in der Liste noch Anknüpfungspunkte für weitere Forschung oder Artikel. Leider besitze ich weder über ausreichende Kenntnisse in Anatomie noch über genug Phantasie, um den gegebenen Hinweisen selbständig folgen zu können, wäre aber durchaus interessiert an weiteren Details – und Bildern.

    [1]
    http://naknikhome.blogspot.de/2011/05/sixteenth-century-anatomists-couldnt.html#.UR-G0vKKySo

  7. @ Joker

    Das von Ihnen zitierte Blog verweist auf die Publikation (Olry und Haines), die ich in meiner Fussnote zitierte. Mit ein wenig gutem Willen ist jenes Paper bei “google scholar” sogar für jederman zugänglich. Aber es ist (visuell) nicht sehr erhellend, indem es die Bilder unterschlägt.

    Ich frage mich ehrlich, warum.

  8. @Helmut: Gleichberechtigung

    Nachdem du dich schon um den Gehirnpenis gekümmert hast, ist hiermit ja der Gleichberechtigung Genüge getan. Hätte mir einmal früher jemand erklärt, wie schön Anatomie sein kann, wer weiß, vielleicht hätte ich dann auch Biologie oder Medizin studiert.

    Warum die Wissenschaftshistoriker keine Bilder veröffentlichen, das ist mir auch ein Rätsel. Normalerweise finden die Angehörigen dieser Zunft es toll, wenn sie ihre Arbeit auch mit Bildmaterial belegen können. Unter anderem deshalb stöbern sie ja mitunter Tagelang in Archiven.

    Vielleicht handelt es sich hier einfach um ein Copyright-Problem? Zur Not könntest du die Autoren ja einfach einmal anschreiben oder gleich einen Letter an das Journal schicken – mit deinen eigenen Abbildungen. Vielleicht kriegst du dann dort sogar noch eine Veröffentlichung!

Schreibe einen Kommentar