Isotroper Fraktionator

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Doch, es geht um Wissenschaft. Neuroanatomie sogar. Obwohl es erstmal ganz anders klingt.

“Isotroper Fraktionator” -“der gleichrichtende Zerbrecher” [1]: Das riecht nach Mord und Totschlag, nach einem Scharfrichter, der die Knochen und Glieder seiner Opfer auf dem Rad verhackstückt. “Isotroper Fraktionator”: Das erinnert die Anatomen an den bösen Witz, den sie so gerne über die Molekularbiologen und Biochemiker machen. Bei denen, so lästern die Anatomen, begännen fast alle Laborprotokolle mit den Worten: “Man nehme eine Maus und stecke sie in den Mixer…”.

Ein “tissue grinder”, auch “potter” genannt. Von hier.

Der isotrope Fraktionator ist ein Mixer. Ein “tissue grinder”. Eine ganze Maus passt da nicht hinein. Aber Teile schon. Und wenn die wieder aus dem Mahlwerk herauskommen, sind sie bis zur Unkenntlichkeit vermatscht. Noch nicht mal die Zellen bleiben intakt. Aber – oh Wunder – auch mit Mäusemus kann man noch Anatomie machen, und mit Menschenmatsch auch. Und das geht so.

Mal angenommen, Sie wollten wissen, wieviele Nervenzellen ein Hirn hat. Sagen wir ruhig mal: das eines Menschen. Die Literatur sagt: so etwa 100 Milliarden. Und nochmal 1000 Milliarden Gliazellen obendrauf. Es ist unmittelbar evident, dass kein Mensch die modulo “1,2,3,4…” abgezählt hat, das ähnelte ja dem Versuch, die deutschen Staatsschulden euroweise abzuzählen…

(Was übrigens ein Beschäftigungsprogramm wäre, man müsste mal ausrechnen, wie lange es dauern würde, von “ein Euro, zwei Euro …” bis zu “zweitausendundvierundziebzigmilliarden-neunhundertneunundneunzigmillionen-neunhundertachtundsiebzigtausend-dreihundertundvierundsechzig Euro” zu zählen. Vermutlich ginge das aber gar nicht, und zwar nicht nur deshalb, weil eine Lebenszeit dafür nicht ausreichte, sondern weil die Schulden sekündlich schneller steigen, als man die Zahlen aussprechen kann, die sie benennen, was im übrigen eine nette, fast metaphysisch-mathematische Einsicht in das Wesen der Schuldenkrise gewährt – sozusagen der Cantorsche Beweis der Überabzählbarkeit der Schulden, in’s Temporale gewendet … ich schweife ab, Entschuldigung.)

…dass also kein Mensch 100 Milliarden Zellen abgezählt hat, sondern dass das eine Hochrechnung ist. Und wie macht man die? Nun, man macht einen mikroskopischen Schnitt mit bekannter Dicke, färbt die Zellen darin an und zählt sie in einem Fenster mit bekannter Kantenlänge, also in einem bestimmten Volumen, aus. Ein paar Multiplikationen später, die auf’s Gesamtvolumen führen, hat man die Gesamtzahl der Zellen. So hat man das ein Jahrhundert lang auch gemacht. “Stereologie” nennt man das.

Fluoreszierende (Nerven-)zellen (Schnittpräparat) im Zählfenster eines stereologischen Mikroskopes. Von hier

Es gibt aber jede Menge Probleme mit dieser Methode. Das gravierendste ist sicher, dass das Hirn keine Leber ist. Wenn ich von einer Leber weiss, wieviele Zellen in einem Kubikmillimeter ihres Volumens sind, dann weiss ich, wieviele insgesamt drin sind. Denn die Leber ist homogen, sieht überall gleich aus, hat überall gleich viele Zellen. Das Gehirn aber nun gerade nicht. Und wenn man anfängt, von der Zählerei in der Kleinhirnrinde auf den Cortex, die Grosshirnrinde also, zu extrapolieren, dann kommt Unsinn heraus. Der Cortex des Grosshirns ist viel weniger zelldicht.

Blöde sind die Anatomen ja nicht. Das haben sie schnell gemerkt, und nun mühsam einzelne, halbwegs homogene Regionen abgeklappert und angefangen, zunächst mal auf die hochzurechnen und dann zu addieren. Wobei halt wieder das Problem des “halbwegs Homogenen” auftaucht. Schon der Cortex cerebri in sich ist alles andere als homogen. An die sechzig Brodmann-Areale. Jedes ein bischen anders. Fliessende Grenzen.

Aber jetzt! Der isotrope Fraktionator! Anatomie mit dem Mixer! Und es ist so idiotisch einfach, dass es schon wieder genial ist. Das Protokoll ist narrensicher. Und es geht so:

1) Man nehme ein Hirn (ein ganzes!) und stecke es in den Mixer (“grinder”) [5].
2) Unter Zugabe eines eines geeigneten wässrigen Verdünnungsmittels (Puffer) gründlich zermatschen, bis alle Zellen geplatzt sind. Gesamtvolumen des Hirn/Puffer-Breies messen. Aufschreiben. Zettel nicht verschlampen.
3) Man entnehme ein kleines, bekanntes Volumen. Aufschreiben. Zettel nicht verschlampen.
4) Man zentrifugiere die Zellkerne ab.
5) Man verwerfe den Überstand und färbe die Zellkerne mit geeigneten (fluoreszenten) Farbstoffen (die es erlauben, Glia und Nervenzellen zu unterscheiden).
6) Man jage die Probe durch ein Durchflusszytometer [3], das die Farbstoffe unterscheiden kann.
7) Fast fertig. Am Durchflusszytometer abgelesene Zahl mit dem Quotienten der Zahlen auf dem ersten und dem zweiten Zettel multiplizieren: fertig.

Aus der Publikation [4] von unten. Ich denk’, das erklärt sich weitgehend von selbst und aus dem Text. Man kann die gefärbten Zellkerne auch “manuell” in einem Hämocytometer (einer Zählkammer mit bekanntem Volumen) auszählen. DAPI färbt alle Zellkerne, NeuN nur die der Nervenzellen.

Resultate für Homo sapiens: etwa 86 Milliarden Neurone [2]. Und etwa genausoviele Glia-Zellen. Das ist erstaunlich. Wenig. Wenig im Verglich zu den Staatsschulden, aber vor allem wenig Glia. Denn bislang hiess es immer, es gäbe 10 mal so viele Gliazellen wie Neurone. Gibt es auch. Aber nur im Hirnstamm. Denn das ist der nächste Reiz der Methode: man muss ja nicht das ganze Hirn auf einmal zermatschen. Man kann, schön peu a peu, erst das Grosshirn, dann das Kleinhirn und dann den Hirnstamm homogenisieren und separat messen.

Now that I know that, what do I do?

Zunächst mal den Erfindern der Methode applaudieren. Ein Florilegium ihrer Arbeiten ist, in Zitatform, unten angehängt.

Zweitens, drüber nachdenken, was die Zahlen bedeuten. Der Verlust von 15% meiner Nervenzellen schmerzt mich wenig. Aber dass ich auf einmal 90% meiner Gliazellen verloren habe – das beeindruckt mich schon.

Im Hirnstamm, wie gesagt, da stimmt die “alte” Relation von 1 Neuron pro 10 Gliazellen. Aber im Gross- und im Kleinhirn – da sind wir runter auf 1 Neuron pro 3,7 Gliazellen im Grosshirn. Im Cerebellum sogar auf 1 zu 0,2. Und ausserdem – der nächste Knaller: dass es im Kleinhirn mehr Nervenzellen gibt als in der Grosshirnrinde, das wissen wir schon lange. Dass aber im Kleinhirn gleich 69 Milliarden Neurone sind, im Cortex cerebri aber nur 16 Milliarden – das hat mich schon erstaunt.

Naja, vorläufig kann man die Ergebnisse sicher verwenden, um der üblichen Vergöttlichung des Cortex cerebri entgegen zu treten, zumindest der Apotheose durch die Nennung der Zahl der Zellen. Zwar “macht” er (Entschuldigung, ich will’s kurz halten und greife deshalb zu diesem knappen, aber falschen Wort) das Bewusstsein, aber er “macht” das mit relativ wenigen Neuronen. Wahrscheinlich kommt’s also gar nicht auf die Neuronenzahl an, sondern auf die Verknüpfungen, auf die Synapsen, auf das Neuropil, das im Cortex cerebri – viel mehr als im Cerebellum – sich überall zwischen die Neurone drängt.

Connection machine. Auf die Verbindungen kommt es an. Die des Cerebellum sind darüberhinaus grösstenteils extrinsisch: rein-raus. Die des Cortex cerebri aber intrinsisch – er ist mehr mit sich selbst als mit anderen neuronalen Systemen befasst. Und brütet dabei so herrliche Ideen wie den isotropen Fraktionator, den anatomischen Multimilliardenmixer aus.

[1] “Isotroper Fraktionator” – so nennen die Autoren der u.g. Publikationen ihre Methode

[2] Equal Numbers of Neuronal and Nonneuronal Cells Make the Human Brain an Isometrically Scaled-Up Primate Brain.
Azevedo, F.A.C., Carvalho, R.B., Grinberg, L.T., Farfel, J.M., Ferretti, R.E.L.,
Leite, R.E.P., Jacob-Filho, W., Lent, R. & Herculano-Houzel, S.
The Journal of Comparative Neurology 513:532–541 (2009)

[3] A rapid and reliable method of counting neurons and other cells in brain tissue: a comparison of flow cytometry and manual counting methods.
Christine E. Collins, Nicole A. Young, David K. Flaherty, David C. Airey & Jon H. Kaas
Frontiers in Neuroanatomy (open access)
published: 09 February 2010
doi: 10.3389/neuro.05.005.2010

[4] How many neurons do you have? Some dogmas of quantitative neuroscience under revision.
Roberto Lent, Frederico A. C. Azevedo, Carlos H. Andrade-Moraes  & Ana V. O. Pinto
European Journal of Neuroscience, 35: 1–9 (2012)

[5] Nun ja – man muss unter Umständen ein paarmal zum “potter” greifen, oder einen sehr grossen “tissue grinder” haben…

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

14 Kommentare

  1. Schöner und unterhaltsamer Artikel. Danke 🙂 Und der Exkurs in die Überabzählbarkeit der Schulden war m.E. nicht zu lang.

  2. Guter Artikel

    Aber die Überschrift? Hmm, wieviele Menschen interessieren sich für Laborutensilien?

    Hoffentlich lesen genug Leute bis zum Schluß, sonst entgeht ihnen die eigentliche Info.

  3. @ Geisler

    Tja … da ham’se recht.

    Aber ich blogge so wenig Wissenschaft, und so viel Feuilleton, dass ich EINMAL seriös klingen wollte.

    Ich wart’ mal ab. Und wenn sich der Aufsatz von den Zugriffszahlen her nicht so entwickelt, wie ich mir das wünsche, dann nenn’ ich ihn:

    “Der milliardenmässige Alleszermalmer”

    … und schreib’ noch was über Kant und Moses Mendelsson dazu, über die Zermatschung der Welt mit den Mitteln der Vernunft, und über den hirnerweichenden Unsinn der Staatsschulden und der Zahlen überhaupt, über die Entwertung der Euronen und Neuronen und überhaupt .. stimmt!

    Heut’ ist ja Rosenmontag!

    “Unzählbar ist der Narren Zahl,
    unzählbar, wir die Schulden.
    Bis sie je zurückgezahlt,
    müsst Ihr Euch gedulden.
    Doch bis zum Aschermittwoch nur,
    da werden sie erlassen.
    Die Narren tragen Kater heim –
    Die Gläub’ger leere Katzen.”

    (“Katze” ist ein altes Wort für Geldbeutel)

    Irgendwie bin ich auf dies Gedicht grad recht stolz. Ad hoc. Und das mit nur 16 Milliarden Neuronen im Cortex.

    Na gut – einige weniger. Zu viele Insulte, von seiten der Vernunft und der Unvernunft…

  4. Grmpf. Zugegeben, ich stehe mittlerweile nicht mehr ganz so überfordert vor Forschungsergebnissen (über welche ich bloggen möchte) wie am Anfang meiner Zeit hier.
    Aber diese Lockerheit will sich bei mir immer noch nicht einstellen. Vielleicht kommt das noch…
    Danke für diesen schönen Artikel und ein paar Erinnerungen an gematschtes Fleisch…

  5. Selbstkorrektur

    Sehr schön finde ich, wenn die Blogger in ihren eigenen Blogs fehlerhaft kommentieren und sich über einen weiteren Kommentar korrigieren, anstatt im Admin den eigenen Kommentarbeitrag zu editieren. Diesen Luxus sollte man sich doch gönnen. 🙂

  6. Naja, vorläufig kann man die Ergebnisse sicher verwenden, um der üblichen Vergöttlichung des Cortex cerebri entgegen zu treten, zumindest der Apotheose durch die Nennung der Zahl der Zellen.

    Ach, lieber Helmut, genau das Gegenteil ist der Fall. Das Kleinhirn etc., quasi unter Automat braucht die ganzen Zellen, um zu funktionieren, wie es funktioniert. Und der Cortex cerebri (habe ich mal schnell von Dir abgeschrieben), der darf gar nicht so dicht gepackt mit Zellen sein. Da ist nämlich der Vitalstoff, der göttliche Funke, der Geist, der Genius oder wie immer man es nennen will drin enthalten, und der braucht ja auch seinen Platz.

  7. Auf den Punkt

    … Aufschreiben. Zettel nicht verschlampen. …

    Herrlich.

    Beste Grüße und Dank für den Artikel:

    Harald Grunsky

  8. @ Huhn – Selbstkorrektur

    …EIGENTLICH hast Du recht. Aber nur eigentlich. Weil ich nämlich Zettel dauernd verschlampe, habe ich von zu Hause aus keinen Zugang zum Life Type Admin. Auf den Zetteln stehen die Passwörter … ich krieg’ das nicht gebacken. Wahrscheinlich sind 16 Milliarden Neurone für MEINEN Cortex eine grobe Übertreibung. Naja – 16 Milliarden sehr zerstreute Neurone: Das könnte sein.

  9. @ Wicht

    Ok, das ist natürlich etwas anderes. Ich habe das nicht nur bei Dir gesehen und ich fragte mich, warum.

  10. 2009-2012

    Habe den Eintrag auch mit Freude gelesen bzw. “wurde gelesen”, da sich so ein Text ja quasi von selbst liest :-).
     
    Interessant finde ich nur die Tatsache, dass das paper ja schon 2009 veröffentlicht wurde. Ich bin jetzt erst im Rahmen von Recherchen zu einem Grundlagenartikel über Gehirnzellen darauf gestoßen und dann auf Ihren Eintrag – Wie kann das sein, dass selbst neuere Lehrbücher diese Erkenntis noch nicht aufgreifen? Wie sind Sie auf das paper gestoßen?
     
    Vielen Dank! Leonie

  11. @ Leonie

    Ich bin – fast möcht’ ich sagen: Schande! – über Twitter darauf aufmerksam geworden. Jemand aus dem “SciLogs”-Umfeld (war’s der Greshake? Der Fischer? Weiss nicht mehr..) hat einen verlinkten Tweet geschrieben.

    Was die Aktualität von (medizinischen) Lehrbüchern angeht – geben Sie sich keinen Illusionen hin. Es ist zum Beispiel seit mindestens 30 Jahren klar, dass der “Neo”cortex nicht “neu” ist, sondern ebenso alt, wie die anderen Cortices – trotzdem wird der Mist ewig weitergebetet.

    Dito haben die Ergebnisse der funktionellen bildgebenden Verfahren (fNMR) bislang noch keinen Eingang in die Standardlehrbücher der Anatomie gefunden.

    Das wird sich alles erst dann ändern, wenn die Prüfungsfragen des IMPP daruf ausgerichtet werden. “Assessment drives the curriculum.”

  12. Mahlen für Zahlen

    Ich schließe mich dem Lob an.

    Da ich selbst 2009 eine Publikation in Frontiers in Human Neuroscience hatte (fMRI in translation: the challenges facing real-world applications), bin ich schon 2009 auf das Review-Paper von Suzana Herculano-Houzel (The human brain in numbers: a linearly scaled-up primate brain) gestoßen, in dem sie die Ergebnisse der neuen Zählmethode für verschiedene Spezies vorstellt.

    Ich fand das so spannend, dass ich die Dame gleich für einen Artikel interviewen wollte, habe auf meine Anfrage jedoch leider keine Antwort erhalten. Daher hat es in meinem Fall bis zu dem Artikel über die Neuromythen gedauert, bis ich die Befunde aufgegriffen habe.

    Schön, dass wir uns damit in etwa zeitgleich beschäftigt haben. Dein Post ist eine tolle methodische Ergänzung, Helmut. So gut und unterhaltsam hätte ich über die Gehirnmahlerei im Mixer nicht schreiben können.

  13. @ Schleim

    “Mahlen für Zahlen”
    🙂

    Schande, dass MIR das nicht eingefallen ist. Chapeau!

    Schöne Ostern!
    Helmut

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