Denkmal, doppeldeutig

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Auszug aus dem Strafregister: Landfriedensbruch, Diebstahl, Verstoss gegen das Aufenthaltsgesetz, Bigamie, versuchter Mord.

Strafe:

C6 mitten durch. C6 ist die Vertebra cervicalis sexta, der sechste Halswirbel. Da, ziemlich weit unten, nur knapp über den Schultern, hieb der Henker sein Schwert durch. Der Henker war ein Profi, sein Schwert scharf, und der Delinquent gleich tot.

1543 war das, in Basel. Und seither, seit 470 Jahren, stehen Jacob Karrers Knochen für die Wissenschaft stramm. An der Alma mater Basiliensis. Einst in der Aula, jetzt im Anatomischen Museum. Hier ist das Link auf eine sehr gut aufgelöste Photographie, aus der ich das Detail entnommen habe. Das Skelett ist das älteste erhaltene anatomische Präparat der Welt.

“Jacob Karrer aus Gewiler” steht in den alten Dokumenten. Guebwiller heisst das heute, eine Ortschaft im Elsass. Ein böser Mann, soweit die alten Akten das hergeben. Der Mordversuch, der ihn am Ende den Kopf auf Kragenhöhe kostete, galt seiner ersten Ehefrau. Von der, einer Baslerin, hatte er sich getrennt, zum einen, weil er der Stadt verwiesen war, zum anderen, um sich bigamistisch gleich mit der nächsten zu verheiraten.

Seine erste Frau hatte ihn dann zusammen mit seiner Neuen etwas ausserhalb Basels erwischt. Aber nicht so weit ausserhalb Basels, dass es nicht auch gleich noch ein Verstoss gegen die Aufenthaltsgesetze gewesen wäre, denn Karrer war der Stadt Basel und eines Umkreises von 10 Meilen verwiesen, weil er den Schadensersatz für einen von ihm begangenen Landfriedensbruch nicht bezahlen wollte. Oder konnte. Ausserdem hatte er auch noch irgend etwas gestohlen.

Dass Karrers Skelett seither für die Anatomie steht, liegt daran, dass anno 1543 Andreas Vesal aus Brüssel in der Stadt war. Vesal, der Gründervater der neuzeitlichen Anatomie. Der war nämlich aus Padua nach Basel gekommen, um die Drucklegung seiner “De humani corporis fabrica libri septem” in der Druckerei von Johannes Oporin zu überwachen. In Basel gab es damals die besten Buchdrucker der Welt, und die Fabrica (hier ist ein Link auf das ganze Buch) ist nun wirklich kein Pappenstiel. Der Schinken hat bald 700 Seiten und jede Menge Holzschnitte. HighTech 1543.

Als guter Akademiker hielt Vesal auch Vorträge an der Universität und führte öffentliche Sektionen durch. Darunter auch die von Karrer. Der wurde am 27. Mai geköpft und am 2. Juni beigesetzt – aber eben nicht zur Gänze. Das Skelett hat Vesal präpariert und der Universität geschenkt. Anno 1543. Im selben Jahr kam die Fabrica heraus, und die moderne Anatomie begann. Und seither, seit 1543, stehen Karrers Überbleibsel zu Ehren von Vesal und der Anatomie in Basel stramm.

Oder auch nicht. Ich hab’ in einem alten lateinischen Text, den ein guter Bekannter Vesals aus Basel, ein gewisser Herr Johannes Gast nur ein paar Jahre später (1548) niederschrieb, folgenden Satz gefunden: “Maritus [gemeint ist Karrer] autem capite detruncatur, ex quo dominus Andreas Vesalius medicus excellentissimus, anatomiam & sceleton fecit. Servatur sceletos illius adhoc in collegio, in perpetuam huius viri memoriam”. (1)

Das ist so herrlich doppeldeutig – ich musste lachen. “In perpetuam huius viri memoriam”. “Zur immerwährenden Erinnerung an diesen Mann” – ja: an wen denn? Andreas Vesal oder Jacob Karrer?

Requiescant in pace.
Uterque.

(1)“Der (Ehe)mann wurde geköpft, und mit ihm hat der Herr Andreas Vesal, dieser hervorragende Arzt, eine Sektion veranstaltet und ein Skelett aus ihm gemacht. Jenes Skelett wird seither im Kolleg aufbewahrt, zur immerwährenden Erinnerung an diesen Mann.”

Quelltexte zu finden in:

G. Wolff-Heidegger, Vesals Basler Skelettpräparat aus dem Jahr 1543, Verh.d. Nat.Forsch.Ges.Basel, Bd.55, 210ff, 1944

 

PS:

Und eben merke ich, dass ich noch eine Pointe unterschlagen habe. Im Jahr 1573 stellte ein gewisser Herr Professor Felix Platter, Dekan der medizinischen Fakultät zu Basel,  zwei weitere Skelette – das einer Frau und eines Kindes – in die Vitrine neben das von Karrer.  Und war sich nicht zu blöde, auf eine Texttafel nebendran schreiben zu lassen, dass er “das Gastgeschenk [also Karrers Skelett] seines berühmten Lehrers [gemeint ist Vesal] verheiratet und fortgepflanzt” habe.

Der arme Karrer! Postmortal sogar zum Trigamisten gemacht!

 

 

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Veröffentlicht von

Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

17 Kommentare

  1. @ Lars

    Weiss ich nicht. Die Hände und ein Fuss fehlen auch.

    Bei Schädelpräparaten gehen Unterkiefer (weil lose) und Zähne (weil der Zahnhalteapparat vermoddert) gerne verloren.

  2. Versuchter Mord und Polygamie

    Apropos versuchter Mord und Polygamie… 1542 beschlossen die 18 Konkubinen des Mingkaisers Jiajing ihn im Schlaf zu erdrosseln. Eine der Konkubinnen verriet den Plan dem Kaiser, der daraufhin die 17 anderen exekutieren liess. (So wird man Konkurrenz los) Versalius war nicht zugegen und so wurden deren Skelette nicht praepariert.

  3. @ Dramiga

    Tolle Geschichte. Wo hast Du die her?

    Interessiert mich weniger, was die Konkubinate der chinesischen Kaiser angeht, als insofern, als es in China doch auch eine Tradition der Anatomie geben muss. Über die ich leider gar nichts weiss.

  4. Wieso die Luxushinrichtung?

    Ich dachte immer, die Enthauptung per Schwert sei ein Privileg adliger Todeskandidaten, da schneller und mit weniger Leiden verbunden. Wieso wurde eine solche Ehre denn diesem Gemeinen zuteil? Die wurden üblicherweise doch am Galgen hingerichtet, das war billiger und bot, wenn der Tod nicht sofort durch Genickbruch eintrat, der Menge ein willkommenes Spektakel.

  5. @Helmut: Sektion in China

    Ich erinnere mich an eine Stelle im Werk Bertrand Russells, an der es darum geht, dass Chinesen westliche Mediziner ins Land geholt haben – das muss wohl so ca. um 1900 gewesen sein –, um die Grundlagen der westlichen Medizin zu lernen.

    Die westlichen Mediziner fragten nach Leichen. Die Chinesen fragten, wozu?

    Die Mediziner sagten, damit sie ihre Körper sezieren und den Gastgebern das Innere zeigen können.

    Die Chinesen schockiert, man wolle doch nicht die Toten stören!

    …aber die zum Tode verurteilten könnten die Herren Mediziner gerne haben.

    Vielleicht hatte das etwas mit Ahnenverehrung zu tun und hat man in China daher keine Sektionen an Leichen vorgenommen?

    Reine Spekulation, wohlgemerkt.

  6. “… und der Delinquent gleich tot.”

    “Gleich tot” aus der Sicht des Publikums und des handwerklich begabten Scharfrichters; wer aber weiß schon, was derweil im Kopf des Betroffenen vorgeht?

    Jeder kennt das: manchmal (in der Oper, in einer Vorlesung, beim gemeinschaftlichen Sonnenbaden, o.ä.) wird einem die Zeit lang, sie wird zähflüssig, will und will einfach nicht verrinnen, Sekunden werden zu gefühlten (tatsächlichen) Zeitaltern.
    Wolf Haas beschreibt in dem Roman “Wie die Tiere” die Eindrücke, die ein Kopf erlebt, der, wenn ich mich recht erinnere, während des heiklen Landevorgangs eines Hubschraubers auf einen alten Wehrturm akzidentell abgetrennt wurde. Der Kopf fliegt also so herum, in weitem Bogen über einen Park, und erlebt dabei neue Perspektiven und Ansichten der Anlage, die ihm bisher nicht vergönnt waren.

    Vielleicht, wer weiß, die Zeit. Geburt und Tod. Anfang, Ende, wann passiert was. Alles gar nicht einfach, möchte ich, nicht ohne ein freundliches Schmunzeln, zu bedenken geben.

  7. Chinesische Anatomie

    Stephan´s Geschichte bestätigt der Paläoanthropologe Alan Walker im Highlight seines ansonsten nicht wirklich spannenden Buches “Turkana Junge”:

    Davidson Black, kanadischer Physiker, fand 1919 seinen Weg ans Peking Union Medical College, weil er vorher mit dem Neuroanatomen Elliot Smith an einem fossilen Schädel, dem Eoanthropus dawsonii (der Piltdown-Fälschung) gearbeitet hatte. Privat wollte er fossile Schädel suchen, beruflich unterrichtete Anatomie. Dazu brauchte er Leichen.

    Man empfahl ihm den Kontakt zur lokalen Polizei, die auch artig einen ganzen Wagen voller Leichen ankarrte, allerdings sämtlich ohne Kopf. Nach Black´s Erklärung, er brauche die Köpfe wirklich, schickte man ihm die Delinquenten intakt und lebendig – er solle sie doch bitte auf die Weise exekutieren, die ihm dienlich erschiene. Das wurde dann aber so nix.

  8. @ Rübe @ Arvid

    …entschuldigt die Verspätung. Ich war weg. In Paris.

    Zu Paris passt Guillotine, und ich weiss, dass man (Anatomen, Physiologen) tatsächlich mit den ganz frischen Köpfen der Guillotinierten Ende des 18 Jhtds. experimentiert hat, vor allem mit Strom. Natürlich reagieren die noch auf elektrische Reizung (Mimik), angeblich aber auch mit Pupillen- und Augenreaktionen auf Zuruf (des eigenen Namens).

    Ich müsst’ das aufwendig recherchieren, hab’ aber momentan keine Zeit – wenn ich mich recht entsinne, ist in Mary Roach’s Buch “Die wunderbare Welt der Leichen” ein Kapitel, das als Einstieg taugen könnte.

  9. @ Khan

    Das hätte ich mich eingentlich auch verwundern sollen.

    Die Akten- und Faktenlage ist klar: das war ein Schwert (“detruncatus”). Basel war freie Reichsstadt – vielleicht hatte der Karrer Basler Bürgerrecht und damit Recht auf “Sonderbehandlung”. Ausserdem ist da in den alten Berichten ein Vermerk, dass er eigentlich schon vor der Geschichte mit dem Mordversuch reif für den Henker war, er aber einen einflussreichen Fürsprecher in der Stadt hatte, so dass man ihn erstmal der Stadt verwies.

  10. isolierte Köpfe

    Ich hab’ nochmal nachgeschlagen – in Mary Roach’s Buch “Die fabelhafte Welt der Leichen” ist tatsächlich ein sehr gutes Kapitel zu dem Thema. Sehr gut vor allem auch deswegen, weil die Originalliteratur zitiert wird.

  11. @Wicht: Mary Roach’s Buch

    Ich habe in einer Rezension auf dradio folgendes Zitat aus dem Buch gelesen: “Die moderne Medizin ist sich im Großen und Ganzen einig in der Annahme, dass die Seele im Gehirn sitzt, dem Oberbefehlshaber über Leben und Tod.”

    Im Großen und Ganzen bin ich der Auffassung, daß solche Äußerungen bedenkliches Geschwafel sind. Das muß natürlich nicht heißen, daß auch im Rest des Buches so herumbramarbasiert wird, aber mal ehrlich, in einem guten Buch mag einem Manches begegnen, niemals aber unnütz aufgeplusterte Sprache. Deshalb lege ich den Fünfer erstmal, ein bißchen seitlich, auf das Schweinchen drauf.

  12. @ Rübe

    Ich hatte Mary Roaches Buch nicht ganz gelesen, nur das besagte Kapitel. Ich hab’ jetzt noch ein weiteres gelesen (über die Leichenbeschaffungsmethoden der Anatomen früherer Jahrhunderte), und will meinen Meinung eigentlich nicht grundlegend revidieren.

    Ja, es ist salopp und erfüllt sicher keinen wissenschaftlichen Anspruch, aber ich habe keinen groben Bockmist, aber viele Anekdoten, die ich schon kannte, und auch andere, mir neue, darin gefunden.

    Und hintendran ist eben ein Quellenverzeichnis, das als Einstieg in eine ernsthafte Recherche taugen mag.

  13. … oder eine Axt?

    Entschuldigung, wenn ich in so morbider Weise auf dem Hinrichtungswerkzeug herumreite. Metaphorisch gesehen.

    Lässt sich aus dem sauberen Schnitt zwingend ableiten, dass das verwendete Werkzeug ein Schwert gewesen sein muss? D.h., wenn eine Axt verwendet worden wäre, sähe man dann – vorausgesetzt der Scharfrichter verstand sein Fach und brauchte nicht drei, vier oder mehr Hiebe bis zur vollständigen Abtrennung des Kopfes (dokumentiert ist eine Hinrichtung, bei der 10 Hiebe erforderlich waren) – einen Unterschied zur Schwerthinrichtung?

  14. @Khan

    Oioioi – das sind jetzt Fragen, die man einem Rechtsmediziner stellen müsste, ich hab’ keine Ahnnung, ob man einen Schwert- und einen Axthieb an der Art der Knochenzerstörung unterscheiden kann. Ob das Gerät stumpf oder scharf war – das kann man sicher unterscheiden. In Karrers Fall ist der Knochen ja nicht zertrümmert, sondern zerschnitten (zumindest nach dem, was ich auf dem Bild sehe, ich war lange nicht mehr in Basel im Anatomiemuseum).

    Ich hab’ (in der zitierten Publikation) noch einen Akteneintrag von 1538 gefunden, da steht, dass Karrer die “pen (poena, Strafe) des schwerts” drohe – also wohl wirklich ein Schwert, sofern das damals nicht eine feststehende Redewendung für ALLE Arten des Enthauptens war.

    Kurz – ich bin überfragt.

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