Akademische Darmtätigkeit

BLOG: Anatomisches Allerlei

Kopflose Fußnoten von Helmut Wicht
Anatomisches Allerlei

Am vergangenen Freitag hatte ich das Vergnügen, den Abschlussball unserer Absolventen (die im Herbst des vergangenen Jahres ihr zweites Staatsexamen abgelegt haben) mir einer kurzen Ansprache eröffnen zu dürfen. Hier ist sie – garniert mit einigen Fussnoten, die noch ein paar Erklärungen und Reflexionen enthalten, die in der Ansprache keinen Platz fanden, bzw. mir erst während des Balls in den Sinn kamen.

Werte Absolventinnen und Absolventen,
meine Damen und Herren!

Jetzt vor Ihnen stehen zu dürfen, einen Toast bei Ihrem Ball ausbringen zu dürfen – das ist eine grosse Ehre. Ich hab’ mir extra meinen Zylinder (1) aufgesetzt, um ihn nachher vor Ihnen ziehen zu können, um Ihnen meine Ehrerbietung darzubringen. Aber erstmal lass’ ich ihn noch auf. Ich mache so optisch mehr her.

Sie haben mich zu Ihrem Ball gebeten, weil ich in Ihrem ersten Semester der erste Dozent eines grossen Faches – der Anatomie – war, der zu Ihnen redete. Und ich sollte, sagten die, die mich einluden, auch der sein, der das letzte Wort an sie richtet.

Sie wissen gar nicht, wie sehr Sie mir schmeicheln. Anfang und Ende zu sein, Alpha und Omega – das können nur die wenigsten von sich sagen. Ich bin das Alpha und das Omega, das A und das O — AO wie “Approbationsordung” übrigens. Sie haben’s fast hinter sich, Sie können sich jetzt Ihre Approbationen besorgen – wenn Sie es nicht schon getan haben. Und – AHH – und  OHH — WIE Sie es hinter sich gebracht haben! SIE sind der Jahrgang, der unserer Alma mater im zweiten Abschnitt der ärztlichen Prüfung ein HAMMERergebnis beschert hat! Seit Beginn der Zeitrechnung des IMPP der beste Jahrgang! Chapeau!

(Verbeugung, Zylinder ziehen, ablegen)

A und O – das ist die reine Hybris, das gebührt dem Erlöser, nicht mir. Ich mag heute zwar am Ende Ihrer akademischen Zeit stehen – für Sie aber ist es ein Anfang. Und ich bin der denkbar ungeeigneste Redner, um Ihnen weise Worte, ihr zukünftiges Berufsleben betreffend, mit auf den Weg zu geben. Ich bin nämlich nie aus Akademia herausgekommen. Von den hundertundsechs Semestern meines Lebens hab’ ich 70 an der Uni verbracht, vorher war ich in Windeln, im Kindergarten und in der Schule.

Was will ich – alter Akademiker – Ihnen denn von der Wirklichkeit der Welt da draussen, vor der ich mich stets weise gedrückt habe, erzählen? Ich hab’ ja schon in der Ausbildung versucht, verzweifelt alles, was irgendwie nach klinischer Relevanz roch, von Ihnen fernzuhalten. Und bin schon damit gescheitert. Sie sind ja TROTZDEM Ärzte geworden. Furchtbar.

Ich werd’ einfach mein Scheitern verdauern. Ich mach einfach das weiter, wofür Sie mich im Studium gemocht oder gehasst haben – ich erzähle Ihnen eine nutzlose akademische Schnurre, und geb’ sie Ihnen – als leichtes Marschgepäck und kalorienfreie Wegzehrung – mit auf Ihren Lebensweg.

Hier ist sie:

Akademische Schnurren haben die Eigenart, stets ein wenig umständlich und schwerverdaulich zu sein, trotz ihres mangelnden Nährwertes. Aber Sie können machen, was Sie wollen – Sie sind jetzt ja selbst Akademiker. Für den Rest Ihres Lebens, selbst wenn Sie nie wieder eine Universität betreten sollten. Und man kann sich ja zu recht fragen, was das eigentlich heisst, ein “Akademiker” zu sein.

Nicht im Sinne des Pathos der Wissenschaft und ihrer freiherrvonguttenbergischen Perversion – sondern im ganz handfesten Sinne des Wortes. Wenn man nun bloss wüsste, was das Wort “Akademiker” bedeutet. Ich will’s Ihnen sagen.

Der Herr Akademos war ein attischer Volksheld, weil er die Stadt Athen mal vor dem Zorn der Dioskuren rettete. Wer jetzt die Dioskuren sind, und wiesoweshalb genau — das führte jetzt wirklich zu weit (2). Aber sie müssen sich jetzt das klassische Athen vorstellen. Olle Griechen und so. Marmorne Tempel, mit Säulenhallen davor und drumherum. So einen Säulenumgang nennt man ein “Peristyl”. Peristyl. Ich bitte Sie, sich das Wort zu merken. Es wird noch wichtig. Säulenhalle. Peristyl.

Gut. Dem Akademos setzten die dankbaren Athener in einem Wäldchen einen Tempel. Aber ohne Peristyl. Muss trotzdem ein lauschiges Plätzchen gewesen sein, jener schattige Hain, denn Plato – jawoll, DER Plato, der für die Philosophie das ist, was der Hippokrates für die Medizin war, nämlich ihr Übervater – denn Plato kaufte kurzerhand das Wäldchen des Akademos. Und richtete dort seine Philosophenschule ein. Die Akademie. Wegen Akademos. Und deshalb heissen wir – Akademiker.

Da ham’ wir, meine Damen und Herren Akademiker, aber Schwein gehabt. Der Plato hätt’ ja auch auf die Idee kommen können, sich mit seinen Leuten zum Philosophieren im Peristyl eines Tempels zu treffen. Dann hiessen wir heute nicht Akademiker sondern — Peristaltiker.

So.

Und während Sie jetzt noch diesen sehr akademischen Kalauer verdauen, komme ich ansatzlos zum Schluss. Ich wünsche Ihnen für ihr Leben da draussen, abseits der Akademie, eine gesegnete Peristaltik (3), denn das Leben ist über weite Strecken nur schwer zu verdauen. Auch IN der Akademie übrigens, die Höhepunkte – wie dieser – sind rar.

Aber jetzt: hoch die Gläser!

Auf SIE, auf IHR Leben, aber – nix für ungut – auch auf die Akademie, die Universität – mögen sie leben, blühen, gedeihen – vivant, crescant, floreant – PROSIT!

Fussnoten:

(1) Zylinder. Jawohl. Ich erschien schwarz in schwarz behost und befrackt, mit einem klassischen, hohen Zylinderhut auf dem Kopf. Allerdings schossen die Absolventen selbst bei dieser Veranstaltung den modischen Vogel ab, denn gut ein Drittel von ihnen erschien zu der dem Ball vorangehenden Urkundenverleihung im – Talar. Jawohl. In Talaren, ungeachtet des Muffes von tausend Jahren, von dem manche meinen, er hätte die Talarträger in Deutschland auf ewig diskreditiert. Es waren freilich keine schönen Talare – ziemlich schäbiger, dünner Stoff, ganz schwarz, en gros aus dem Internet besorgt. Nur einige Damen hatten Mut zur Farbe und trugen bunte Schals zu den Talaren, deren Krägen und Manschetten eigentlich mit farbigem Samt geschmückt gehörten – rot wie das Blut für die medizinische Fakultät, grün wie die Hoffnung für die Theologen, und blau (ich weiss nicht, wofür die Farbe steht) für die philosophische Fakultät (das waren in der klassischen Universität alle anderen, Geistes- und Naturwissenschaftler zusammen).

So ein Talar IST ein Statement. Modisch vielleicht weniger, er ist nicht übertrieben kleidsam. Politisch schon. Ich bin geneigt, das als ein positives Signal zu sehen, als einen Ausdruck der Verbundenheit mit der Universität. Indem man sich in ihre Talare wirft, erweist man der Alma mater die Reverenz, ehrt sie als Ort eines bestimmten Lebensgefühls und einer gewissen (akademischen) Denkungsart – und betrachtet sie eben nicht nur als einen Ausbildungsdurchlauferhitzer. Übrigens legt die Tatsache, dass überhaupt solch ein Abschlussfest samt Ball stattfindet, von der Sehnsucht der Studenten nach solch einer Bindung Zeugnis ab – diese Veranstaltungen an unserem Fachbereich sind auf die Initiative der Studenten zurückzuführen. Vorher wurden sie schnöde per Post mit ihren Absolventen-Urkunden versehen und exmatrikuliert.

(2) Helena von Sparta. Der ganze Ärger begann mit der Schönheit Helenens. Das schöne Mädchen – eine Tochter der Leda und des Zeus, und damit die Schwester der kriegerischen Dioskuren Kastor und Pollux – das schöne Mädchen wurde nämlich nicht nur von Paris nach Troja entführt – was den trojanischen Krieg auslöste – nein, vorher wurde sie schon mal gekidnappt, und zwar von Theseus. Der versteckte sie irgendwo in Attika in der Nähe Athens, die Spartaner und die Dioskuren rückten an, um sie zu befreien, und drohten, Athen in Schutt und Asche legen. Da verriet ihnen Akademos, der Athener, wo Helena versteckt war. Das Heer der Dioskuren befreite sie und zog ab, Athen blieb heil. Die Geburt der Akademie aus dem Geiste der Friedfertigkeit. Sehr schön. Aber auch aus dem Geist des Verrates am einem anderen Nationalhelden Athens: Theseus.

(3) Die Kürze, mit der ich diesen Toast würzen wollte, verbat es mir, in der Rede noch eine Volte zu schlagen, die ich nun in dieser Fussnote unterbringe.

“Eigentlich”, sagte ich nach dem Toast zu einem der Absolventen, “eigentlich hätt’ ich noch erzählen sollen, dass das mit dem ‘Peristyl’ und der ‘Peristaltik” gar nicht SO weit hergeholt ist – die Philososphenschule, die der Aristoteles gegründet hat, die nannte sich die ‘Peripatetiker”, weil sie, derweil sie philosophierend und plaudernd Erkenntnisse gewannen,  hin- und her- und auf- und abliefen. Und, wer weiss, vielleicht haben sie das ja in Peristylen getan, da war’s schattig in der Hitze und trocken im Regen …”

“Eigentlich”, sagte der frischgebackene Arzt, “passt ‘Peripatetiker’ sogar noch besser. Wir ha’m jetzt ja gerade unser praktisches Jahr auf Station hinter uns. Und, glauben Sie mir – das bestand zu 90 Prozent aus Hin- und Herlaufen.”

“Mit oder ohne Erkenntnisgewinn?”, fragte ich.

“Kommen Sie”, grinste der Absolvent, “der Ball fängt an, lassen Sie uns ausnahmsweise mal heiter sein, lassen Sie den zynischen Diogenes in der Tonne und giessen Sie sich mit mir einen auf die Lampe.”

Dictum, factum.

Bildverweis: Das Bild stammt von Wikipedia, hier. Es zeigt das von einem Peristyl umgebene Atrium eines römischen Profanbaus, einer Villa in Pompeji.

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Gedankenfragmente von Helmut Wicht, Dozent an der Frankfurter Universität, über Neurobiologie, Anatomie, Philosophie, Gott und die Welt. Seine eigentliche Expertise bezieht sich auf die (Human-)anatomie und die vergleichende Anatomie des Nervensystems.

5 Kommentare

  1. @ Huhn – blau

    “Farbe der Treue”

    Oh, das ist spannend. Wenn das so ist, dann kann man “Treue” ja auch mit “Wahrhaftigkeit” und “Wahrheit” gleichsetzen, die dann in allen Fakultäten AUSSER der Medizin und der Theologie residierte…

    *grins*

    Jetzt ist der zynische Diogenes DOCH aus der Tonne gekommen.

  2. Uh, das ist aber gemein. Nun ja, mich juckt es ja eigentlich nicht, denn ich bin weder Mediziner noch Theologe und auch kein Physiker. Als Ingenieur zählt man uns noch nichtmal richtig zu den Naturwissenschaftlen. Aber Wahrhaftigkeit und Wahrheit in den Fakultäten außer Medizin und Theologie, das ist auch immer so eine Sache. Bei den Physikern kommt man da wohl sehr nah dran, weil die Empirie hart urteilt. Aber dennoch bleibt auch dort genügend Interpretationsspielraum, der mit Wahrheit nicht viel gemein haben muß. Da braucht man nur Quantenwelts neuesten Beitrag durchlesen.

    Also, wenn irgendjemand die Farbe Blau und deren Bedeutung für sich in Anspruch nehmen darf, dann sind das wir Ingenieure. Wenn wir eine Brücke oder Autos bauen, dann kann darüber abgestimmt, sich drüber gestritten, drüber interpretiert werden, das nutzt alles nichts. Letzendlich muß es eines tun, nämlich funktionieren. Das ist Wahrhaftigkeit. Friß oder stirb, dazwischen gibt es nichts.

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